Interview mit Prof. Dr. Sommer: Wann ist ein Mann ein Mann?

Ein Penis macht noch keinen Mann – auch wenn das bei einigen Männern anscheinend noch nicht angekommen ist. Vielmehr geht es darum, welche Beziehung er zu seinem Geschlecht hat. Damit meine ich auch, wie die Beziehung und der Umgang mit Geschlechtsgenossen und Frauen ist und welches Männerbild er hat?

Einen Ansatz, was männlich sein bedeuten könnte, lieferte Herbert Grönemeyer 1984 mit seinem Song „Wann ist der Mann ein Mann?" Darin spiegeln sich die klassischen Männerbilder aus den 1960er und 70er Jahren wider: Ein richtiger Kerl – also ein richtiger Mann – ist dafür zuständig, seine Familie zu versorgen, indem er zur Arbeit geht und Geld nach Hause bringt. Außer der Versorgerrolle weiß er auch noch, wie man Probleme löst. Es wird nicht herumgejammert, sondern angepackt. Und da der Mann hart arbeitet, um das Geld für die Familie zu verdienen, hat er ein recht darauf, sich zuhause auszuruhen oder mal ordentlich einen „draufzumachen". Dabei verträgt ein echter Kerl so einiges an Alkohol. Und natürlich hat er immer Lust auf Sex und kann immer! Gefühle zeigen – und dazu gehören auch Tränen, verletzlich sein, sich Geborgenheit wünschen oder über sich reden, das passte lange Jahre nicht ins Männerbild.

Seit den 1980er Jahren hat sich das Männerbild verändert. Ina Deter brachte das mit ihrem Lied „Neue Männer braucht das Land" auf den Punkt. Seit einigen Jahrzehnten wird von einem Mann beispielsweise erwartet, dass er seinen Vaterpflichten nachkommt. Und dass er in der Lage ist, Gefühle zu zeigen und diese auch zulassen. Einen großen Anteil an dieser Entwicklung haben die Frauen, die ebenfalls zum Familieneinkommen beitragen und gleichberechtigt sein wollen. Viele Männer kommen da nicht mit. Wie viel einfacher war es früher für sie, als die Männerrolle noch klar definiert war. Folglich kommt es immer wieder vor, dass Männer ein Problem mit ihrer Männlichkeit haben. Welchen Pflichten müssen sie nachkommen? Und was bedeutet der gesellschaftliche und kulturelle Wandel konkret für sie? Gerade kleine Jungs suchen nach Vorbildern. Die finden sie unter anderem auch in Filmen wie „The Fast and the Furious“. Doch lässt sich auch hier eine Wandlung in den Heldenrollen erkennen. Die ursprünglich knallharten Typen zeigen Gefühle – und das ist auch gut so!

Interview („ADAM HAT ANGST“) von Florian Güßgen und Nina Poelchau aus dem Jahr 2018 mit Prof. Sommer

Herr Sommer, vor fünfzig Jahren begann die sexuelle Revolution. Damals galt der Schlachtruf „Wer zweimal mit der gleichen pennt, gehört schon zum Establishment“. Wie sieht es 2018 mit der sexuellen Freiheit der Männer aus?  

Dass man sich mit mehreren Partnerinnen und Partnern ausprobiert, ist heute normal. Aber, ich sage das jetzt mal provokativ: Die wahre Revolution für die Männer besteht heute darin, überhaupt noch Sex zu haben. 

Um Himmels Willen. 

Der Antrieb der Männer in den Industrienationen ist im Keller, und das liegt am Lebensstil, den der Wohlstand mit sich bringt. Viele sind zu dick, leiden unter Diabetes oder Herz-Kreislauf-Problemen. Hinzu kommt der wachsende Stress im Kopf. Wenn der Cortisolspiegel chronisch erhöht ist, sinkt die Libido. Während junge Männer vor 30 Jahren fast jeden einzelnen Tag Sex hatten und auch ältere Männer zwei-, dreimal die Woche, ist Geschlechtsverkehr inzwischen für viele eine Ausnahmeerscheinung.

Was ist das Problem?  

Es wird viel mehr verlangt. Im Beruf genauso wie in der Familie. Vieles hat sich extrem beschleunigt. Es fällt den meisten Männern schwer, auf ihre Gesundheit zu achten – und abzuschalten. Adam hat Angst, auf diese Formel lässt es sich bringen.

Und der ängstliche Adam hat dann Erektionsprobleme.

So wirkt sich das oft aus, ja. 

Das kratzt am Ego – und es belastet eine Beziehung.

Es geht nicht nur um Sex. Der Penis hat auch eine Warnfunktion. Wenn seine Gefäße nicht mehr gut durchblutet sind, kann das zum Beispiel ein Hinweis auf einen bevorstehenden Herzinfarkt sein. 

Für das naheliegende Problem gibt es aber seit fast genau 20 Jahren ein Wundermittel: Viagra.

Die Entdeckung von PDE-5-Hemmern wie Viagra bedeutet einen immensen Fortschritt. Vorher waren unsere medizinischen Möglichkeiten beschränkt. Männern konnte im Prinzip nur ein Schwellkörperimplantat in den Penis eingesetzt werden oder sie mussten sich etwas spritzen lassen.

Nach Spaß und Sinnlichkeit klingt das nicht.

Beides war auch mit den damaligen Techniken durchaus möglich. Aber man musste gewisse Schmerzen hinnehmen und sich erst einmal daran gewöhnen. Viagra macht es sehr viel einfacher. 

Und für Frauen? Ist der immer potente Mann Lust oder Last? 

Das kommt darauf an. Ich habe in meiner Praxis Frauen, die ihre Männer begleiten und sagen: Es wäre schön, wenn mein Mann wieder eine Erektion hätte. Aber es gibt schon auch Paare, bei denen beide eigentlich mit dem Sex abgeschlossen haben. Aus meiner Sicht ist das völlig in Ordnung. Die machen eben andere Sachen zusammen: wandern, gehen ins Kino, was weiß ich. Wenn so ein Paar zu mir kommt, möchte die Frau vor allem sicherstellen, dass ihr Mann kein Herzinfarktkandidat ist – und dann wieder beruhigt mit ihm nach Hause gehen. Ich erlebe allerdings immer wieder, dass der Mann mich, wenn sie schon aus der Tür ist, im Vertrauen nach einer Tablette fragt. 

Das schafft dann aber ein Problem, oder?

Wenn er das Mittel schluckt, kann es sein, dass das Gleichgewicht in der Beziehung empfindlich gestört wird: Er will plötzlich wieder Sex. Viele Frauen lehnen Potenzmittel übrigens instinktiv ab, weil sie denken: Der Mann hat eine Erektion, ganz egal welches weibliche Wesen vor ihm steht.  Ich sage dann immer: Das Mittel verstärkt nur, was da ist. Ein sexueller Reiz, der Wunsch nach Intimität ist schon nötig. 

Für Jüngere ist Viagra mitunter ein Party-Accessoire: Es wird eingeworfen, damit‘s am Wochenende noch besser läuft.

Das soll jeder halten, wie er will. Man muss aber wissen, dass es auch Risiken gibt. Wie hoch diese Risiken sind, prüft der Arzt. Und er warnt den Patienten auch davor, bevor er das Mittel verschreibt.

Dabei werden Potenzmittel wie Viagra doch überall im Internet angeboten. 

Der Großteil dieser Pillen ist gefälscht und mit Schwermetallen verunreinigt.

Das kann gefährlich für die Gesundheit sein. Manchmal ist die Dosierung so hoch, dass Herzprobleme drohen eine Dauererektion folgt und die wird nach zwei, drei Stunden oft sehr schmerzhaft. Da muss man schnellstens in die Notaufnahme. Peinlich. Ich kann nur sagen: Finger weg. Besser ist es, zum Arzt zu gehen.

Es gibt noch eine andere Sorte von Produkten, die gerne empfohlen werden, um müden Männern zu helfen: Testosteronpräparate. Ist das vor allem Geldmacherei? 

Nicht unbedingt. Der durchschnittliche Testosteronspiegel ist in den vergangenen Jahren besorgnisserregend gesunken. Es ist ja normal, dass der Pegel altersbedingt ab etwa 35 kontinuierlich nach unten geht und die Erektionen bei den reiferen Semestern nicht mehr so fest und stabil sind. Aber was wir heute erleben, hat mit dem natürlichen Alterungsprozess nichts zu tun. Schon junge Männer haben zu wenig Testosteron im Blut.

Wir erleben eine Testosteronkrise?

So würde ich das nicht sagen. Das ist zu simpel. Testosteron ist nur ein Baustein im Gefüge. Aber tatsächlich ist das Testosteron auch für mich das Königshormon.

Wer bekommt es von Ihnen?

Testosteron kann eine sinnvolle Anschubhilfe sein. Ich verschreibe es gern vorübergehend, damit die Männer wieder auf die Beine kommen...

... und ihre Testosteronproduktion anschließend selbst wieder ankurbeln?

Sie brauchen ja erst mal Schwung, um ihre Gewohnheiten zu verändern. Dabei geht es vor allem um Bewegung, gesunde Ernährung und Entspannung. Eigentlich kein Hexenwerk. Und die Einstellung muss sich ändern. Einer meiner Patienten war Model. Marathonläufer. Er war wahnsinnig fit. Der hatte aber trotzdem Erektionsstörungen. Weil für ihn alles Herausforderung war, Kampf. Wenn der um die Alster lief, dann so, dass ihn bloß keiner überholen konnte. Freizeitbeschäftigung, die für neuen Stress sorgt. Das nützt dann auch nichts. Ich habe ihm beigebracht, langsam zu laufen. Er hat ein gutes Jahr dafür gebraucht, seinen inneren Frieden damit zu machen, auch mal überholt zu werden. Oft geht es um mentale Probleme.

Um die richtige Einstellung?

Das Gehirn ist das wichtigste Organ, das wir haben. Ich bin eigentlich Somatiker, orientiere mich immer am Körper. Aber mit der Psyche kann man so viel beeinflussen. Manchmal hilft es schon, sich regelmäßig in Siegerpose vor den Spiegel zu stellen.

Siegerpose? Machen Sie das mal vor.

Reißt die Arme nach oben. Wie nach einem Olympiasieg.

Das hilft natürlich nicht immer. Aber machen Sie das doch mal. Stellen Sie sich zu Hause vor den Spiegel, üben Sie die Pose. Und dann gehen Sie mit dem Gefühl in die Arbeit, nicht mit hängenden Schultern, nicht klein. Sondern groß. Das empfehle ich den Männern für ihre Psyche. Und dann machen wir einen Plan. Gesund essen: viele Gurken, Zucchini und Melonen – die enthalten Citrullin. Das  ist gut für den Blutfluss Richtung Penis. Kreuzblütler wie Brokkoli: sehr gesund. Und auch Haferflocken können in der Ernährung positive Effekte haben. Dazu kommt: jeden Tag etwas bewegen, am besten draußen.

Muss man wirklich zu einem Professor gehen, um sich das empfehlen zu lassen?

Viele Männer sind erst dann für so etwas offen, wenn sie Erektionsprobleme haben und tief verunsichert vor mir sitzen. Sie begreifen auf einmal: All das, was ich ständig lese, betrifft mich selbst.

Welche Sportart empfehlen Sie? 

Ausdauersport. Laufen. Faszientraining. 

Was machen Sie denn selbst? Sie sehen ziemlich durchtrainiert aus.

Bis vor ein paar Jahren bin ich jeden Morgen um halb fünf in die Klinik gejoggt, fast zehn Kilometer. Jetzt wohne ich nebenan und gehe ins Fitnessstudio. Im Urlaub dann immer Outdoor-Sport. Und ich bin ein großer Fan von Gymnastik. Yoga. So etwas. 

Gymnastik ist nicht gerade das, was sich ein Mann als Tipp von Ihnen erhofft, oder? 

Ich habe es aufgegeben, Männern Yoga zu empfehlen. Da winken die ab. Ich lege ihnen stattdessen Faszientraining ans Herz. Das ist in und klingt nicht nach esoterischem Frauenzeug. Yoga ist übrigens ein hervorragendes Faszientraining, aber was soll‘s.

Mit einem Gesundheitsplan und Testosteron als Anschubhilfe geht es den erschöpften Männern dann bald besser? 

Man muss auch noch die Gefühle einbeziehen. Männern fällt es immer noch schwer, darüber zu sprechen. 

Erstaunlich. Frauen lieben doch Männer, die über Gefühle sprechen.

Die meisten Männer, die mir begegnen, wollen keine Schwäche zeigen. Im Beruf, bei ihrer Frau, vor den Kumpeln, vor den Kindern. 

Aber Ihnen vertrauen sie an, wie es ihnen wirklich geht? 

Im Vorgespräch sind sie sehr zurückhaltend damit. Aber dann füllen sie einen detaillierten Fragebogen aus. Es wird nach depressiven Verstimmungen gefragt und zum Beispiel, ob jemand das Gefühl hat, den Höhepunkt seines Lebens hinter sich zu haben. Ich bin immer wieder erstaunt: Da sitzt einer vor mir, der als ganzer Kerl rüberkommt – und der fühlt sich depressiv, ist voller Sorge, nicht zu genügen.... 

... und manchmal auch, seine Frau zu enttäuschen, weil er kein Kind zeugen kann?

Ich bin Reproduktionsmediziner. Viele kinderlose Paare suchen meinen Rat. Sehr oft ist der Mann „schuld“: Die durchschnittliche Zahl der Spermien ist in den vergangenen Jahrzehnten fast um die Hälfe gesunken. Die Qualität hat sich ebenfalls dramatisch verschlechtert. Sogar bei jungen Männern schaffen es manchmal nur 5 bis 15 Prozent der Spermien bis zur Eizelle, der Rest macht unterwegs schlapp. Auch das hat viel mit dem Lebensstil zu tun. Rauchen, Fastfood, Bauchfett – ungünstig. Für Männer ist es extrem schmerzhaft zu erkennen, dass es an ihnen liegt, wenn ihre Frau nicht schwanger wird. Das können viele erst mal gar nicht glauben. Aber nach dem ersten Schock ist das dann immerhin ein ebenso mächtiger Anstoß wie eine Erektionsstörung, endlich auf die Gesundheit zu achten.